Die Veranstaltung fand im Rahmenprogramm der Ausstellung "Ilja Ehrenburg und die Deutschen" am 22. Juni 2009 im Rostocker Peter-Weiss-Haus statt.

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Wir danken Prof. Dr. Willi Beitz zudem sehr herzlich dafür, dass er uns sein Manuskript zur Verfügung gestellt hat.
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Ilja Ehrenburg – Plädoyer für einen großen Europäer
Prof. Dr. Willi Beitz
Ilja Ehrenburg – Plädoyer für einen großen Europäer
(Vortrag in Rostock am 22. Juni 2009)
Für das Wort vom großen Europäer kann ich kein Urherberrecht beanspruchen. Als erster hat es meines Wissens der französische sozialistische Politiker André Blumel in seiner Grabrede für Ilja Ehrenburg 1967 gebraucht. Blumel war damals im Vorstand der Gesellschaft für Französisch-Sowjetische Freundschaft tätig. Über ihn ist auch zu erfahren, dass er sich im Jahre 1962 bei den sowjetischen Behörden für ein Denkmal der in Babi Jar ermordeten Juden eingesetzt hat. Ich gebrauche das erwähnte Wort vom großen Europäer mit vollem Bedacht, weil ich auch heute, wo dieses Schriftstellerleben mit allen seinen Widersprüchen und Schwachpunkten einsehbar ist, die außergewöhnliche Leistung herausstellen will, die Ehrenburg für ein Europa des friedlichen Zusammenlebens und des Gedeihens der Kulturen vollbracht hat. Dabei möchte ich weniger auf die Reihe seiner politischen Aktivitäten eingehen, die eine eigene Würdigung verdient hätten, denn sie reichen vom Engagement im Spanischen Bürgerkrieg an der Seite von Michail Kolzow und Hemingway über die geradezu pausenlose Tätigkeit als sowjetischer Frontkorrespondent im 2. Weltkrieg, nicht zu vergessen die Dokumentation (zusammen mit Wassili Grossman) der faschistischen Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung auf sowjetischem Gebiet - bis hin zu seinen Bemühungen als Mitglied des Weltfriedensrates gemeinsam mit Gelehrten von Weltruf wie Joliot-Curie oder Künstlern wie Picasso um die Eindämmung der Atomkriegsgefahr in den Nachkriegsjahren. Alles dies sollte politischen Akteuren von heute Respekt abnötigen. Doch man kann immer wieder das Gegenteil erleben. Vor ein paar Jahren veranlasste mich ein Auftritt des Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft Schlesien im Bund der Vertriebenen, Rudi Pawelka, zu einer Polemik in der Zeitschrift „Ossietzky“. Pawelka versuchte wieder einmal, Ehrenburg für die Übergriffe von Rotarmisten gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung bei Kriegsende verantwortlich zu machen. Solche Leute schert es offenbar überhaupt nicht, dass sie mit ihrer Ehrenburg-Hetze an den übelsten Rassismus anknüpfen, den es je auf deutschem Boden gegeben hat! Auf dieses Thema komme ich noch zurück.
Es ist erfreulich, dass in den letzten Jahren von wissenschaftlicher Seite eine ganze Menge klärender Arbeit zu Ehrenburgs Biographie und zur Beurteilung seiner verschiedenen Aktivitäten geleistet wurde. Gut dokumentiert und einer kritischen Wertung zugänglich sind jene Anfeindungen, die noch in der alten Bundesrepublik gegen Ehrenburg und die Herausgabe seiner Memoiren ins Werk gesetzt wurden. Andererseits können Verdienste und einzelne kritikwürdige Seiten beim Umgang mit Ehrenburg in der Verlagspolitik der DDDR differenzierter als früher beurteilt werden – wobei nach wie vor die vielbändige Ehrenburg-Werkausgabe von Volk und Welt mit den fundierten Nachworten von Ralf Schröder hoch zu würdigen ist, sie ist immer noch die einzige ihrer Art in unserem Lande! Mit den verschiedenen Seiten der Ehrenburg-Rezeption hierzulande hat sich ausführlich und fundiert EVELINE PASSET in der Zeitschr. „Osteuropa“, 2007, Heft 12, auseinandergesetzt.
Alles dies voraussetzend, möchte ich mich im folgenden weniger mit der praktisch-politischen Seite von Ehrenburgs Schriftstellerleben beschäftigen, sondern mit den europäischen Horizonten, Visionen und Zielgrößen seines geistigen, kulturell-künstlerischen Wirkens. Gemeint ist also vorrangig – und dies in gewisser Polemik mit einer in der Bevölkerung spürbaren Distanz - das Europa der Kulturen. Dieses Europa ist weder durch Beschlüsse herbeizuführen noch gar abzuschaffen. Es ist in Jahrhunderten gewachsen, gehört zu den geistigen Grundlagen unseres Lebens – und es ist in dem Maße lebendig, wie es sowohl individuell als auch in der Öffentlichkeit angeeignet, zum Gegenstand des Austausches gemacht wird. Im vorigen, dem 20. Jahrhundert – wenn nicht gerade Krieg geführt wurde – besaß das verständnisfördernde Wort eines bedeutenden Schriftstellers noch Gewicht. Ob das heute noch der Fall ist, wo die Medien sich eher in Schriftstellerbeschimpfung üben und wo nicht so sehr die Hochkultur wie die Eventkultur gepflegt wird, möchte ich offenlassen. Insofern ist das Beispiel Ehrenburg zunächst einmal von historischem Interesse. Es sendet allerdings Botschaften an die Gegenwart aus, von denen ich die eine oder andere gern verdolmetschen würde.
In Russland wurde bekanntlich in den 40-er Jahren des 19. Jahrhunderts zwischen Slawophilen und Westlem darüber gestritten, ob die Besinnung auf die eigenen slawischen Wurzeln oder die Orientierung nach Westeuropa hin heilbringend sei. Im Sinne dieser Alternative ist Ehrenburg ein „Westler“ par excellence gewesen. Doch er war es nicht absolut und unwiderruflich – denn neben der frühen Liebe zu Paris blieben auch sein Geburtsort Kiew und Moskau und andere russische Städte und Landschaften in seinem Herzen. Er engagierte sich früh für die Politik, war mit Bucharin befreundet und kannte Lenin und Trotzki – und wurde doch kein Bolschewik. Er war sich seiner jüdischen Herkunft bewusst, hatte mit den Verfolgungsängsten eines Mannes aus jüdischem Hause zu kämpfen, doch sein literarisches Werk ist nicht der jüdischen, sondern der russischen Literatur zuzurechnen. Er war ein russischer Schrifsteller mit Sowjetpaß und europäischem Visum. Dies nahm er nicht als Dilemma hin, sondern nutzte die darin liegenden Möglichkeiten. Dabei waren Kompromisse unvermeidlich, sie zeigen sich auch in der wechselnden Qualität und in unterschiedlichen ästhetischen Orientierungen seiner literarischen Werke. Den im Geiste der Moderne verfassten Romanen der Frühzeit folgten typische Aufbauromane der 1930-er Jahre oder die dem ästhetischen Kanon der Nachkriegszeit angepassten Romane „Sturm“ und „Die neunte Woge“. Doch dann gab es mit „Tauwetter“ das Signal einer geistigen, politischen, ästhetischen Erneuerung. Welche Seite von Ehrenburgs Biographie und Persönlichkeit man auch nimmt – man hat es stets mit widerstreitenden Kräften zu tun, die nie zu einem beruhigenden Ausgleich kamen. Ehrenburgs ganzes Leben war eine schwierige Balance, aber erwuchs nicht gerade daraus seine nicht nachlassende Aktivität, der Impuls zu immer neuen Wagnissen, auch als Mittler zwischen Ost und West?!
Als der 17-jährige Ehrenburg im Dezember 1908 in Paris eintraf, hatte er von der Bedeutung des Ortes kaum eine Ahnung. Die Biographin Ehrenburgs, Lilly Marcou, schreibt: „Um die Jahrhundertwende war Paris das Zentrum der Weltkultur […] Alle für das 20. Jahrhundert bedeutenden Künstler haben hier begonnen […] Paris war ein Schmelztiegel… eine Stadt, die der schöpferischen Arbeit… verschiedensten Einflüssen Raum bot. Und alles, was sich tat zu Beginn dieses Jahrhunderts, ereignete sich in Montparnasse, fand im Umfeld zweier Cafés statt – der Closerie des Lilas und der Rotonde! (S. 24) Es war ein Glücksfall für Ehrenburg, dass das Café Rotonde auch sein bevorzugter Ort war – die Anregungen, die er hier empfing, die Beziehungen zu Schriftstellern und Künstlern wirkten wie ein Generator, der eine ganze Serie von literarischen Projekten hervorbrachte. Wir können diesen heute nicht im einzelnen nachgehen und wollen daher nur eine der Kraftlinien herausgreifen, die, im Pariser Künstlerkreis geboren, weit später – dank eines künstlerischen Zeichens – hinaus in die Weltpolitik führte Es ist die lebenslange Freundschaft zwischen Ehrenburg und Pablo Picasso. Beide wurden nicht zufällig Kombattanten in der Weltfriedensbewegung der 1940-er/-50er Jahre. Hätte es das weltweit wirkende Symbol der von Picasso entworfenen Friedenstaube gegeben – ohne jene Freundschaft? Und wirkte nicht die Picassosche Art der Symbolfindung gewissermaßen weiter im Ehrenburgschen Romantitel „Tauwetter“? Jedenfalls besaß auch dieser solch zündende Kraft, dass er sich gleichsam von der Textgestalt des Romans löste und unabhängig davon in der Weltöffentlichkeit als Symbol des gesellschaftlichen Wandels nach Stalins Tod wirken konnte.
Mit alledem will ich auch auf folgendes hinaus: Die Liebe zu Frankreich bewirkte bei Ehrenburg keine Verengung des Blickfelds, die Erinnerung an den „Rotonde“-Kreis band ihn nicht nostalgisch zurück an Vergangenes – vielmehr weitete sie den Blick für größere Zusammenhänge, letztlich für Europa, und machte Energien frei. So gilt vielleicht auch hier der Satz von Heinrich Mann: Frankreich sei das „zweite Geburtsland des Europäers“. In einem der großen Essays aus den letzten Lebensjahren Ehrenburgs mit dem Titel „Die Lehren Stendhals“ (1957) stehen Sätze, die wie eine Bilanzierung und Verteidigung seiner eigenen Haltung verstanden werden können: „Man hat gesagt, Heine sei kein deutscher Dichter, da er Frankreich liebte. Man hat gesagt, Herzen sei kein russischer Schriftsteller, weil er vor den ‚heiligen Steinen’ Europas Hochachtung empfand. Stendhal liebte Frankreich, aber er ertrug weder verlogene Hymnen noch pseudopatriotisches Getue; er war zu anständig, um sich in die Brust zu werfen und an allen Kreuzwegen Europas die Priorität seiner Heimat herauszuschreien… Der Streit um den Kosmopolitismus Stendhals ist der alte Streit um den wahren Charakter der Vaterlandsliebe: ist diese Liebe mit der Verachtung der anderen Völker verbunden, mit einer Verherrlichung der Schwächen und Fehler des eigenen Volkes, mit Bannflüchen und Hurrapatriotismus? Für die Hurrapatrioten (die es auch in Frankreich gibt) war der „Mailänder Arrigo Beyle“ Spreu im Wind. Doch für Frankreich war und bleibt er einer der klarsten Repräsentanten des französischen Geistes.“
Wir haben vorgegriffen. Beim Thema Ehrenburg und Europa muß man mit seinen frühen Romanen beginnen – dieser Kaskade erstaunlicher literarischer Schöpfungen eines jungen Talents, das sich mühsam aus ärmlichem „westlichem“ Künstlerdasein herausarbeitete. Auf jeden Fall gehört der Erstling „Julio Jurenito“ (1921) als wahrer Geniestreich dazu (zuerst 1922 im Berliner Helikon-Verlag, 1923 in Moskau mit einem Vorwort Nikolai Bucharins erschienen), auch der „Trust D.E.“ (1923) und natürlich „Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz“ (1924), bis hin zu „Die heiligsten Güter“ (1931) und zur „Traumfabrik“ (1931). Eines der auffälligsten Merkmale dieser Romane ist der Aktionsradius der ruhelosen Figuren: sie werden entweder im Vollzug einer frei vagabundierenden Existenzweise oder aber im Gefolge ihrer großflächigen Geschäftsinteressen über den ganzen europäischen Kontinent getrieben und haben an dessen Erschütterungen, an Krieg und Revolution teil – wenn sie nicht gar die Zerstörung Europas planen und ins Werk setzen.
Man hat den „Julio Jurenito“ mit der Prosa der Aufklärungsepoche, im besonderen mit Voltaires Erzählung „Candide“ (1739), in Beziehung gebracht – obwohl Ehrenburg bestritt, dieses Werk vor der Niederschrift seines Romans überhaupt gekannt zu haben. Dennoch lässt sich eine gewisse poetologische Verwandtschaft nicht leugnen. Victor Klemperer schreibt in seiner 1954 erschienenen „Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert“, Voltaire seien in seinen Erzählungen „Menschenschicksale“ „unwichtiger“ gewesen „als das Schicksal der Menschheit“. Der bekannte Romanist sieht die auftretenden Figuren nicht als Charaktere, sondern als „Ideenpuppen“, die sich zwar „auf Augenblicke in Menschen (verwandeln)“, dann aber wieder als „Karikaturen, Marionetten, Allegorien und Symbole“ fungieren. Doch solche „Verwandlungen“ bedeuteten „kein Erstarren, vielmehr eine übermäßige Vitalität, eine unnatürliche Beschleunigung der Spielfiguren“. (S.65) Eben dies gilt auch für die Romanfiguren in Ehrenburgs „Julio Jurenito“. Wenn der Meister hier zu seinem Zug durch Europa Jünger anwirbt, läuft vor unseren Augen nicht etwa eine moderne Variante der biblischen Heilsgeschichte ab. Schon die mephistophelische Anlage der Hauptfigur als Provokateur steht dem entgegen. Und die anderen Figuren sind nicht in erster Linie Charaktere, vielmehr haben sie, wie bei Voltaire, etwas von Figurinen, „Ideenpuppen“ – und können vom Autor daher benutzt werden, um Eigenschaften, markante Züge der von ihnen repräsentierten europäischen Nationen ins Bild zu setzen.
Nehmen wir den Russen Alexej Spiridonowitsch Tischin. Er führt sich sogleich mit einer für sein Land typischen schwergewichtigen Frage ein: „Bin ich ein Mensch oder nicht?“ Und seine Lebensbeschreibung liest sich wie ein Rendezvous mit Gestalten und Stationen der russischen Literatur – vor allem Lew Tolstois und Dostojewskis, und es heißt über diesen Jünger, „heftige Seelenbewegungen“ gingen bei ihm mit dem „Zerschlagen von Geschirr“ einher (S. 51). Wie anders dagegen der Italiener Ercole Bambucci: vom Geist einer großen Kulturgeschichte umweht, ist er doch weit eher ein Clown. Zitat: „Seine Gestik wäre der Primadonna Münchens würdig, und um seine Redegabe könnte ihn der beste Advokat Petersburgs beneiden. Von Kind auf weiß und kann er alles, doch er zieht es vor, darauf zu spucken, denn er hasst mit aller Kraft und Leidenschaft jedes Amt und jede Organisation. Er macht alles umgekehrt.“ (S. 73)
Genug der Beispiele und Zitate – außer noch einem: über den Auftritt des Deutschen Karl Schmidt. Mir scheint, der Ton, der beim Zug des Meisters mit seinen Jüngern durch deutsche Lande und Städte angeschlagen wird, erinnert an Heinrich Heine – Ehrenburgs deutschen Lieblingsautor. (Eine Bemerkung am Rande: Wenn man sich in Deutschland über mangelnde Sympathien Ehrenburgs für Deutsche beklagt, sei bedacht, dass er sich auf einen Deutschen – allerdings einen mit ähnlich ruhelosem jüdischen Schicksal, oft bezogen hat: in den Memoiren kommt Heine von allen deutschen Dichtern und Denkern am häufigsten vor, nämlich 19-mal. Goethe, an zweiter Stelle, 13-mal, Anna Seghers 12-mal, Thomas Mann 11-mal, Ernst Toller 9-mal, Brecht und Feuchtwanger je 6-mal). Ich zitiere also aus dem „Julio Jurenito“: „So kamen wir nach Deutschland und fühlten uns dort, offen gestanden, nicht sehr wohl.“ Dies sagt, wohlgemerkt, der als Erzähler fungierende Jünger Ilja Ehrenburg, nicht der Meister, der sich eher an manchen deutschen Sitten und Vorlieben ergötzt. Beispielsweise für das Geschehen auf den Exerzierplätzen, „auf denen Hunderte prächtige Marionetten augenblicklich“ auf die gegebenen Befehle reagierten.
Man besucht also den Studenten Karl Schmidt in seiner peinlich sauberen Dachkammer, registriert die an der Wand hängenden Porträts von Kaiser Wilhelm, Karl Marx und Immanuel Kant. Was die Zusammenstellung solcher Protagonisten ahnen läßt, trifft ein: erstaunliche Wendungen in Schmidts Karriere. Nachdem man ihn gewisse Zeit aus den Augen verloren hatte, erscheint er ausgerechnet in den Wirren der russischen Revolution wieder auf der Bildfläche – als Kommunist in Machtposition, der die in Bedrängnis geratenen Jünger und den Meister vor der Erschießung rettet. Mehr noch: er ist schon damit beschäftigt, auf seine pedantische Art das Leben der Menschen in der Zukunft vorauszuplanen – und beispielsweisefestzulegen, wieviel Ingenieure oder Schlosser oder auch Dichter gebraucht werden. Der Leser fühlt sich in Samjatins antiutopischen Roman „Wir“ versetzt, der fast zeitgleich mit dem „Julio Jurenito“ geschrieben wurde, jedoch erst 1924 in englischer Sprache herauskam. Nach solchen geistigen Ergüssen ertönt die Stimme des Jüngers Ehrenburg: „Ich hätte losheulen können vor Grausen…“ (S. 230).
Erstaunlich ist, wie im „Julio Jurenito“ die Erörterung rational erfassbarer Tatbestände mitunter in Vorahnungen übergeht. Es sind Visionen des jüdischen Dichters Ehrenburg, der gewisse Gefährdungen zu spüren scheint, die sich erst viel später bewahrheiten sollten. Wir Heutigen sind tief betroffen, wenn wir im 11. Kapitel des Romans die „Prophezeiung des Meisters über die Schicksale des jüdischen Volkes“ lesen, wo es heißt: „In naher Zukunft finden feierliche Veranstaltungen statt zur Ausrottung der jüdischen Rasse in Budapest, Kiew, Jaffa, Algier und vielen anderen Orten. Das Programm umfasst neben den beim verehrten Publikum beliebten traditionellen Pogromen eine im Geist der Zeit modernisierte Verbrenung von Juden, ihre Beerdigung bei lebendigem Leibe, das Sprengen von Feldern mit jüdischem Blut ebenso wie neue Methoden der ‚Evakuierung’, der ‚Säuberung von verdächtigen Elementen’…“
Der russische Jünger Alexej Spiridonowitsch reagiert entsetzt und ruft: „Das ist doch unvorstellbar! Solche Niedertracht im zwanzigsten Jahrhundert!“ Der Meister entgegnet ihm mit gewohntem Zynismus: Er werde sich bald vom Gegenteil überzeugen. Wörtlich: „Das zwanzigste Jahrhundert wird sich als ein sehr lustiges und leichtsinniges, als ein Jahrhundert ohne moralische Vorurteile entpuppen…“ Und er erinnert an viele Beispiele vom Umgang mit den Juden in der Geschichte. Dann kommt ihm der Russe noch mit dem Einwand, die Juden seien doch „genau solche Menschen wie wir“. Doch auch dieser Einwand wird vom Meister weggewischt, mit dem Argument: „Ihr Blut ist nicht deins…“ – womit er das richtige Stichwort für die wenig später in Aktion tretenden braunen Rassisten genannt hat.
Wie schon angedeutet, durchmaß Ehrenburg mit den Protagonisten nachfolgender Romane wieder und wieder den europäischen Kontinent – mit Figuren, die machtpolitische oder geschäftliche Interessen verfolgten, oder beides zugleich. Doch am Ende dieser Romanreihe, im Jahre 1927, April bis Oktober, schrieb er die traurige Geschichte des Juden Lasik Roitschwantz auf – die, obwohl sie sich in die Reihe einfügt, dennoch einzigartig ist – in ihrem künstlerischen Rang und ihrer einmaligen Prägung durch jüdische Kultur und Kunst. Dazu mag die vom Biographen vermerkte derzeitige Freundschaft des Verfassers mit dem jüdischen Schriftsteller Perez Markisch und die Lektüre chassidischer Legenden beigetragen haben.
Die Geschichte beginnt in einem ganz realen jüdischen Lebensort – dem in Weißrußland gelegenen Homel (russ. Gomel). Natürlich denkt man bei der Lektüre früher oder später an einen anderen, gleichfalls weißrussischen jüdischen Ort – nämlich Witebsk, den Herkunftsort Marc Chagalls, jenes weltberühmten Malers, den Ehrenburg als „Poeten des belorussischen Schtetls“ bezeichnete, und der zu seinem Freundeskreis in der Pariser „Rotonde“ gehörte, wo auch Lasik zeitweilig einkehren wird. Und wenn man die eigenartig gewundene, „wuselnde“ Erzählweise auf sich wirken läßt, mit der Lasik als Held des Romans mit seiner kleinstädtischen Umgebung eingeführt wird, assoziiert man unwillkürlich den Klang der Klezmer-Musik, etwa der Klarinette eines Giora Feidman … Mit einem Wort: uns empfängt der Zauber echter Poesie, und er wird uns besonders am Ende der Geschichte, mit dem Tod Lasiks, dem die Heimkehr nach Homel nicht mehr gelang, und mit der bewegenden Parabel vom Kind und seinem Pfeifchen, noch einmal stark anrühren.
Doch zwischen diesem Beginn und diesem Ausgang vollzieht sich eine quer durch den Kontinent führende Irrfahrt und Suche – sie führt von Homel über Kiew und Tula nach Moskau, über Grodno nach Warschau und Poznan – weiter über Königsberg nach Berlin und Magdeburg, nach Mainz und Frankfurt – und natürlich für längere Zeit nach Paris – dann aber auch nach London, nach Liverpool – und von dort schließlich, mehr zufällig, nach Palästina: Tel Aviv – Jaffa – Jerusalem…
Es handelt sich in diesem Roman nicht um hochtrabende Projekte, um philosophische Streitfragen – wir erleben vielmehr Europa als Stätte der vielen möglichen Arten, ausgenutzt, ausgebeutet, missbraucht, verdächtigt und schließlich der Freiheit beraubt zu werden. Mit alledem macht das arme Schneiderlein Lasik Roitschwantz im Verlaufe seines „stürmischen“ Lebens (wie es im russischen Original heißt) Bekanntschaft. Und was da an wahren Redekaskaden aufgeboten, wie da ideell hochgestapelt oder niedergeschwätzt wird – und unser Held doch am Ende meist als ein Häufchen Elend, oft hungernd und ohne feste Bleibe dasteht – das ergibt in seiner Gänze ein künstlerisches Dokument von großer Eindringlichkeit. Was dieses Werk aus der Sicht des Entstehungsjahres 1927 letztlich aussagt – darüber läßt sich sicher streiten. Hoffnung für den Menschen scheint jedenfalls eher in den kleinen, überschaubaren Lebensbezirken angesiedelt als in den großen Systemen und Lehren. Vage Hoffnung für ein Leben im Schtetl von Homel, in das Lasik am Ende zurückkehren will, von dem er sagt: „…dort suchen die Menschen nach etwas.“ (S. 251) Das ist als vorsichtige Zwischenbilanz nach dem Ersten Großen Krieg in Europa und vor den noch nicht absehbaren Entwicklungen der 1930-er Jahre durchaus nachvollziehbar!
Meine Damen und Herren – da ich Sie nicht mit einem flächendeckenden Rapport über Leben und Werk Ilja Ehrenburgs langweilen, sondern mich auf die für das heutige Thema relevanten Gegenstände und möglichen Streitpunkte konzentrieren möchte, machen wir jetzt einen zeitlichen Sprung in die Jahre des 2. Weltkriegs. Es geht um jene Monate, wo Ehrenburg als Verfasser massenwirksamer Frontpublizistik von sich reden machte und wo ihn bundesdeutsche Politiker und ihr Mediengefolge als Hassprediger und Deutschenhasser ausgemacht zu haben glauben. Wie geht dies mit dem Lob des großen Europäers zusammen?
Aus meiner Kenntnis der Dinge ist die These, Ehrenburg sei ein „Deutschenhasser“ gewesen – an der auch ein Martin Walser im Jahre 1962 keinen Zweifel lassen wollte – in Frage zu stellen. Aus literarischen Texten wie auch aus dokumentarischen Lebenszeugnissen geht allerdings hervor, dass er nicht gerade große Sympathien für Deutsche empfand und unter ihnen kaum Freunde hatte. Vielleicht liegt eine Primärquelle für diese Einstellung in schockierenden Erlebnissen des 1. Weltkriegs. Im letzten Kriegsjahr übernahm er die Aufgabe, Berichte von der französisch-deutschen Front für eine Petersburger Zeitung zu schreiben. In diesem Auftrag war er an der Somme, bei Amiens, am Argonnerwald, in Belgien und später erlebte er auch die Hölle von Verdun. In diesen Korrespondenzen stehen Sätze (er hat einige davon später in seine Memoiren aufgenommen), die mitunter schon die Verwüstungen und den Terror vorwegzunehmen scheinen, die von den faschistischen Okkupanten im 2. Weltkrieg ausgegangen sind – etwa, wenn es heißt, dass deutsche Soldaten das von ihnen vorübergehend besetzte Städtchen Gerbéviller bei Nancy vollständig niederbrannten, so dass die Einwohner danach in Baracken und Erdlöchern hausen mussten. Und „sie erzählten, hundert Mann seien erschossen worden. Warum? Keiner wusste es“. In den Memoiren heißt es: „Ich sah 1916 deutsche Anschläge über Geiselerschießungen. Ein Vierteljahrhundert später tauchten solche Anschläge abermals an den Mauern französischer Städte auf…“
Was nun die umstrittene Publizistik Ehrenburgs von der Front des zweiten der beiden großen Kriege angeht, so lassen Sie mich nochmals einen Blick auf die Tatsachen werfen:
Ehrenburg hat in einer Reihe von prägnant formulierten, auf unmittelbare Wirkung gerichteten und nachweislich massenwirksamen Artikeln in der Armeezeitung „Krasnaja swesda“ im Sommer 1942 in der Tat auf die Tötung deutscher Soldaten und auf den Haß als notwendige emotionale Schubkraft zu diesem Handeln orientiert. Doch er hat nicht zu blindem, blindwütigem Haß angestachelt, sondern er hat beides, den Haß und das Töten rational begründet. Die lange Reihe seiner Presseartikel – man kann sie im russischen Original im Internet nachlesen – fordert zum Nach- und Umdenken auf, und wenn man sie nacheinander liest, bekommt man den Eindruck, dass sie in ihrer Summe eine Haltung aufbauen, der letztlich überlegtes, wenngleich emotional von Haß und Erbitterung geprägtes Handeln entspringen soll. Am deutlichsten wird dieser Zusammenhang vielleicht in einem ausführlichen Beitrag vom 26. Mai 1942 unter der Überschrift „Rechtfertigung des Hasses“. Ehrenburg spricht hier von der – wie bekannt – gutmütigen Natur, der dobrota des russischen Menschen, der nicht nachtragend und zu „Verständnis und Verzeihung“ bereit sei. Er berichtet von früheren Begegnungen mit Menschen in einem transsilvanischen Ort, die sich mit Rührung an die gute Behandlung erinnerten, die ihnen als Kriegsgefangenen des 1. Weltkrieges in Russland widerfahren sei. „Der Hass lag nicht in der Seele des russischen Menschen.“ Ehrenburg fährt fort: „Zu Beginn des Krieges [gemeint ist das Jahr 1941] glaubten viele von uns, dies sei ein gewöhnlicher Krieg, und gegen uns würden genau solche Menschen kämpfen, wie wir es sind, nur anders gekleidet.“ Ehrenburg erfüllte mit seinen Artikeln die schwere Pflicht, den Soldaten und der Bevölkerung bewußtzumachen, dass sie es mit einem Feind ganz anderer Art, mit einer Vernichtungsmaschinerie faschistischer Art zu tun hatten, an der jeder teilhatte, so dass keine Gnade zu erwarten war. In dem am häufigsten zitierten und als Anklagematerial gegen Ehrenburg genutzten Artikel mit der Überschrift „Töte!“ ist dies auf die knappe Formel gebracht: „Wenn du nicht den Deutschen tötest, tötet der Deutsche dich!“ Der Artikel erschien am 24. Juli 1942, er entsprach also genau einer Situation, in der sich die militärische Lage extrem zugespitzt hatte, also alle Kräfte, auch die moralischen, für die Kriegswende eingesetzt werden mussten.
Bleibt die Frage: Hatte die Zielperson, der deutsche Soldat, der Angehörige der deutschen Wehrmacht, das entworfene Feindbild verdient? Was die einzelnen Vorkommnisse betrifft, so brachte Ehrenburg fast in jedem Artikel Beispiele aus erbeuteten Tagebüchern oder Briefen deutscher Soldaten und Offiziere, die von erschreckender Brutalität und Menschenverachtung gegenüber der sowjetischen Seite zeugten. Und was das deutsche Militär als Ganzes angeht, so gab es in unseren Tagen bekanntlich eine vielbesuchte, umstrittene und dann auf einen einzelnen Einspruch hin in ihren Aussagen abgeschwächte Ausstellung, die auch dann immer noch bestätigte, dass die Verbrechen gegenüber sowjetischen Soldaten, Kriegsgefangenen, Zivilisten nicht nur von der SS, sondern eben auch von der Wehrmacht verübt wurden!
Ehrenburg wurde – als sich das Ende des Krieges näherte – auf Stalins Geheiß von seinem Propagandachef Alexandrow als angeblicher „Vereinfacher“ in seiner publizistischen Tätigkeit gestoppt. Er habe die Aufgabe der Roten Armee einseitig als Vernichtung der Deutschen dargestellt. Carola Tischler ist vor einigen Jahren in sorgfältiger Recherche den wirklichen Zusammenhängen nachgegangen. Das Ergebnis: Stalin wollte sich via Kritik an Ehrenburg seinen westlichen Alliierten als Friedensbringer empfehlen. Und Ehrenburg wurde als Bauernopfer auserkoren – nicht, weil er zuviel Hass gepredigt, sondern weil er umgekehrt auf vielen Versammlungen das Verhalten der Roten Armee bei der Besetzung Deutschlands kritisiert hatte: die Soldaten würden wahllos Kulturgüter zerstören, sich sinnlos betrinken usw. Dies hatte der Geheimdienstmann Abakumow am 29. März 1945 Stalin berichtet. So wurde Ehrenburg durch öffentliche Kritik abgestraft, doch der vorgebliche Grund der Kritik war nicht der wirkliche. Carola Tischler verweist abschließend auf die bitteren Worte, die Ehrenburg in seinen Memoiren über die Auswirkungen des Hasses geschrieben hat. Es heißt dort, Hass sei „ein grauenhaftes Gefühl: Er macht innerlich kalt… Die Jungen von heute werden kaum begreifen, was wir durchgemacht haben. Jahre der totalen Verdunkelung, Jahre des Hasses, ein bestohlenes, verunstaltetes Leben …“ (III, S. 35) Ihrem Kommentar, auch Ehrenburgs eigenes Leben sei ein bestohlenes gewesen, kann man zustimmen.
Genug davon. Kehren wir zu dem zurück, was Ehrenburgs Größe, das wahre Pathos seines Lebens ausmacht. In keinem seiner Werke hat dies einen so überzeugenden Ausdruck gefunden wie in seinen dreibändigen Memoiren (samt einer nachgereichten Ergänzung) „Menschen, Jahre, Leben“. Mir kam in diesen Tagen als ein vergleichbares Werk Heinrich Manns Memoirenbuch „Ein Zeitalter wird besichtigt“ (1944 abgeschlossen) in den Sinn. Der starke Eindruck, den ich vor vielen Jahren hatte, wiederholte sich zwar nicht. Doch zweifellos ist es ein gewichtiges Werk – es bietet ein Stück europäischer Politik- und Herrschaftsgeschichte, kulturphilosophische Gedanken – doch es ist kaum mit lebendigen Menschen bevölkert. Vielleicht sind zum Ausgleich ein paar erzählende Texte, eine Liebesgeschichte gar, eingefügt. – Als zweites Vergleichswerk boten sich Stefan Zweigs Memoiren „Die Welt von gestern“ – mit dem Untertitel „Erinnerungen eines Europäers“ (1941/42 entstanden) an. Dies ist nun tatsächlich ein Buch über Wege und Schicksale der europäischen Kulturwelt: man bekommt den Geist, die Atmosphäre, den life style bestimmter Zeitverhältnisse an wichtigen europäischen Orten (Wien, Berlin, London…) in faszinierender Darstellung geboten. Doch es ist ein resignatives Buch, von einem Autor, dem schon die Katastrophe von Weltkrieg I arg zugesetzt hatte, und den der Aufstieg Hitlers und die erzwungene Flucht aus der Heimat letztlich in den Freitod trieben. In diesem großartigen, traurigen Buch gibt es erstaunlicherweise – obwohl der Autor sich in Freundeskreisen bewegte – nur ganz wenige Porträts von Zeitgenossen (eine Ausnahme: das selten lebendige Bild eines Maxim Gorki!).
Und nun Ehrenburg als Memoirenschreiber. Es ist nicht nur erstaunlich, mit welcher Zähigkeit er als junger Mann schwere, entbehrungsreiche Jahre durchlebt und später Gefahren in Zeiten des Stalinschen Terrors überstanden hat – am Ende seines Lebens hat er ein ganz und gar lebensbejahendes Werk geschrieben. Und wie anders ist sein erzählender Ansatz gegenüber den Vergleichswerken. Hören wir, was er selbst über die Idee zu den Memoiren sagt: „Auf einmal bekam ich Angst, ich könnte sterben, ohne von den Menschen, die ich kannte und liebte, erzählt zu haben. Später gesellten sich die Jahre und das Leben hinzu, und mir war es unmöglich, von anderen zu erzählen und von mir selbst zu schweigen. Als ich jedoch den Entschluss fasste, das Buch zu beginnen, dachte ich nicht an meine Hoffnungen und Verirrungen. Vor mir erstand eine Kette von dahingegangenen Menschen, die mir nahegestanden hatten und warm und lebendig geblieben waren.“ (III, S. 418) Also von den Menschen, die nicht nur dem Verfasser etwas bedeuteten, sondern meistens auch für die Kultur ihrer Zeit von Bedeutung waren, zu den Verhältnissen und von da zum eigenen Leben.
Doch das war längst nicht alles: In vielen Fällen bedeutete die Würdigung von Zeitgenossen – Kampf um ihre Rehabilitierung, um die Durchsetzung von Buchausgaben, um würdigende Artikel bei den zuständigen sowjetischen Redakteuren, Zensoren, Politikern. Das vielgerühmte „Tauwetter“ wurde bekanntlich auch unter dem Regiment Chruschtschows immer wieder von frostigen Rückschlägen unterbrochen, und diese führten zu Zwangspausen und zu Textstreichungen beim Abdruck der Memoiren. Man könnte mehrere „Fronten“ nennen, an denen Ehrenburg zu kämpfen hatte. Und er hat gekämpft – und am Ende mit seinen lebendigen Zeitbildern, seinen Einzel- und Gruppenporträts von Zeitgenossen in ganzen Schüben mit den herrschenden Verdikten und Vorurteilen aufgeräumt! Mit den Memoiren wurde das Bild der europäischen Kultur großflächig korrigiert und neu entworfen! Natürlich in erster Linie für die sowjetische Leserschaft – aber bald auch mit internationaler Folgewirkung. Nennen wir einige „Kampfabschnitte“, an denen Ehrenburg tätig wurde: Einmal war es die westliche Kunst der Moderne und der Avantgarde, die besonders seit der Shdanow-Ära der ersten Nachkriegsjahre noch immer unter dem Odium der „Dekadenz“ oder des „Formalismus“ stand. Da war es eine Tat, Künstler wie Rimbaud oder Baudelaire oder aus Ehrenburgs unmittelbaren Freundeskreis Modigliani oder Fernand Léger zu würdigen. Dank Ehrenburgs Engagement gelang es schon 1957 eine Picasso-Ausstellung durchzusetzen. Im gleichen Jahr gab es eine erste Ausstellung französischer Impressionisten. - Dann waren es russische Autoren mit tragischem Schicksal wie die große Dichterin Marina Zwetajewa oder Ossip Mandelstam oder selbst ein Isaak Babel, für deren gebührende Anerkennung Ehrenburgs Wort von Gewicht war. (Die erste nach 20-jähriger Pause erschienene sowjetische Werkauswahl Babels, die ich im März 1957 erwarb, erschien mit einem Vorwort Ehrenburgs). Zu rühmen ist hier auch das Engagement Ehrenburgs für Boris Pasternak. Er hat dies auf sehr geschickte Art getan: nämlich indem er die tiefe Zuneigung und Bewunderung beschreibt, die Majakowski für Pasternak empfand. „Wir pflegten im Scherz zu sagen, Majakowski habe eine zweite Stimme in Reserve, eigens für die Frauen. Mit dieser überaus weichen, zärtlichen Stimme sprach er in meiner Gegenwart nur mit einem einzigen Mann – mit Pasternak.“ Der verfemte Pasternak neben dem von Stalin als „bester, begabtester Dichter der Sowjetepoche“ titulierten Majakowski: das war eine Herausforderung an die herrschende Kulturpolitik!
Und wie verstand es Ehrenburg – in einer eben noch in Frontlinien erstarrten Welt! – Freunde zu finden! Bei der Schilderung irgendeiner Tagung in Rom kommt er auf die Bekanntschaft mit Carlo Levi, Alberto Moravia, mit den weltberühmten italienischen Filmschöpfern de Sica, Fellini, Visconti, de Santis, Antonioni zu sprechen: „Erstaunlich“, schreibt er, „wie schnell die italienischen Freunde in mein Leben getreten sind!“ Auch dieses Talent zur Freundschaft – über Grenzen hinweg – hat Ehrenburg zu einem großen Europäer gemacht!
Lilly Marcou schreibt in ihrer Ehrenburg-Biographie: „Als die Zeitschrift Nowy mir Anfang der sechziger Jahre mit der Veröffentlichung der Memoiren beginnt, reißen sich die Menschen aller Generationen Monat für Monat um die Zeitschrift. Eine voluminöse Korrespondenz häuft sich auf seinem wie auf dem Schreibtisch der Redaktion an. Die Leser identifizieren sich mit seinem Schicksal, teilen ihre Ängste und Hoffnungen mit dem Autor. Überdies bringt dieses Werk Weltkultur in die Wohnungen der damaligen Leser: Ehrenburg ist es zu verdanken, dass zahlreiche westliche Schriftsteller, Maler und andere Künstler erstmals in der UdSSR bekannt werden – als hätte er versucht, den Eisernen Vorhang zu zerreißen und den Westen in sein Land zu bringen…“ (S. 332)
Meine Damen und Herren! Meine Ausführungen zum Thema Ehrenburg und Europa mussten zwangsläufig etwas fragmentarisch bleiben. Wie die erlebten europäischen Realitäten im Wechsel von Vorkriegs-, Kriegs-, Zwischenkriegs- und Nachkriegsjahren von Ehrenburg in seinen verschiedenen Schaffensphasen jeweils anders reflektiert wurden – das konnte nur angedeutet werden. Doch bei aller Vielgestaltigkeit, in der sich der Romancier, der Lyriker, der Publizist Ehrenburg im Verlaufe seiner inneren Entwicklungen seinen Zeitgenossen und uns heute präsentieren mag – in einem ist er sich treu geblieben: in den weiten Horizonten seines Dichtens und Denkens. Dies habe ich von zwei Ansätzen her zu zeigen versucht: von der visionären Kunst seiner frühen Jahre und - in umgekehrter Richtung - von dem Blick zurück auf das Jahrhundert in seinem großartigen Memoirenwerk. Was dazwischen liegt, konnte nur angedeutet werden – vielleicht ist es ein Anreiz, die Lücken durch Ehrenburg-Lektüre zu schließen!