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"Quo vadis, Ilja Ehrenburg in Rostock?": Unser Bericht

V.l.n.r.: Dr. Maria Pulkenat, Karina Jens, Erwin Budél, Heinrich Berkel, Johann-Georg Jaeger, Dr. Cornelia Mannewitz, Günter Althaus, Christoph Friederich

 

4. Juni 2009, Politischer Donnerstag im Peter-Weiss-Haus: Unter oben stehendem Motto versammelten sich Rostocker Bürgerschaftskandidaten der unterschiedlichsten Parteien und Wählervereinigungen und eine solide Zahl interessierter Rostocker Einwohner, um über die Situation des Namens der Ilja-Ehrenburg-Straße in Rostock-Toitenwinkel und den zukünftigen Umgang mit dem Gedenken an den sowjetischen Schriftsteller und Publizisten in der Stadt zu diskutieren. Mehrere von ihnen nutzten noch vor Veranstaltungsbeginn die Gelegenheit, sich die Ausstellung "Ilja Ehrenburg und die Deutschen" anzusehen, die das Peter-Weiss-Haus in diesen Tagen zeigt.

Eine einleitende Präsentation bot eine Chronik der bisherigen Angriffe auf den Straßennamen von der ersten Befassung städtischer Gremien mit Umbenennungsforderungen 1993 über die bisher letzte Ankündigung eines Antrags auf Umbenennung 2007 (Anlass für die Gründung der Initiative Ilja Ehrenburg) bis zu den neuesten Schmierereien an den Straßenschildern und ihre Überklebung mit der Aufschrift "Rudolf-Hess-Straße" vom Mai 2009 (Näheres dazu hier: http://www.rostocker-friedensbuendnis.de/initiative-ilja-ehrenburg/178 ). Anschließend wurde das Podium besetzt: Platz nahmen Erwin Budél (Arbeiter/innen Partei Deutschland), Dr. Maria Pulkenat (AUFBRUCH 09 für Vielfalt und Mitbestimmung), Karina Jens (CDU), Günter Althaus (DIE LINKE), Christoph Friederich (FDP), Heinrich Berkel (FÜR Rostock - pro OB) und Johann-Georg Jaeger (GRÜNE). Modieriert wurde die Diskussion von Dr. Cornelia Mannewitz von der Initiative Ilja Ehrenburg.

Bereits die Statements in Reaktion auf die Eingangsfrage erbrachten ein klares Meinungsbild, lieferten mit der Vielfalt seiner Begründungen aber auch sofort Anknüpfungspunkte für die allgemeine Diskussion: Die Podiumsteilnehmer äußerten sich zu ihren Erfahrungen mit den Forderungen nach Umbenennung der Straße und sprachen sich fast durchweg gegen eine Umbenennung aus. Die klare neonazistische Provenienz der meisten Angriffe auf den Straßennamen spielte dabei eine wichtige Rolle. Gleichzeitig wurde aber deutlich: Das Verhältnis zu Ilja Ehrenburg spaltet weiterhin die Lager und wird ganz besonders auch als eine "deutsche" Angelegenheit begriffen. Das positive Bekenntnis zu dem Straßennamen machte sich hier noch rar.

Folgende Aspekte wurden im Weiteren vom gesamten Teilnehmerkreis angesprochen und diskutiert:

. Ilja Ehrenburgs Lebensweg als Schriftsteller und Politiker, vor allem seine Leistungen für die Weltliteratur und sein Engagement für die Friedensbewegung; angesichts seiner Leistungen: "Hat" Ehrenburg "es nötig", verteidigt zu werden?

. Ilja Ehrenburgs Rolle als Kriegskorrespondent; der faschistische Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, die historische Notwendigkeit, die Sowjetunion zu verteidigen, und der propagandistische Charakter der Artikel und Flugblätter Ehrenburgs (unter anderem wurde die Bezeichnung "Mordhetzer" für ihn zurückgewiesen); persönliche bzw. familiäre Erfahrungen

. der Genozid an den sowjetischen Juden und Ilja Ehrenburgs Rolle bei seiner Dokumentation

. der Stellenwert der Ehrenburg-Diskussion im Komplex der für die Stadt wichtigen Themen; die Frequenz der Umbenennungsforderungen über die Jahre hinweg; die generelle Herausforderung, bei Benennungen nach Personen eine Gesamtleistung in ihren historischen Bezügen zu würdigen; ein wissenschaftliches Gutachten über Ilja Ehrenburgs Schaffen, das die Stadt in Auftrag geben könnte; die Notwendigkeit für die Entscheidungsträger, sich vertieftes Wissen über Ilja Ehrenburg anzueignen; die Rolle außerparlamentarischer Akteure wie der Initiative Ilja Ehrenburg

Zu folgenden strittigen Punkten konnten knappe sachliche Richtigstellungen erfolgen:

. zu dem im Bewusstsein vieler noch immer präsenten und auch an diesem Abend erwähnten Vorwurf, Ilja Ehrenburg habe in einem Flugblatt zur Vergewaltigung deutscher Frauen aufgerufen (tatsächlich ist seit langem nachgewiesen - unter anderem durch ein Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte München - , dass ein solches Flugblatt nie existiert hat; vermutlich ist es ein Produkt der Goebbels-Propaganda);

. zu Ilja Ehrenburgs Verhalten unter den Bedingungen des Hitler-Stalin-Paktes 1939 (von seiner Betroffenheit abgesehen, die sich in tagelanger Arbeitsunfähigkeit äußerte: Ehrenburgs nach wie vor kompromisslose Kritik am Faschismus wurde nicht mehr geduldet, seine Texte wurden nicht gedruckt, sein Roman "Der Fall von Paris" über die faschistische Besetzung Frankreichs konnte erst erscheinen, nachdem Stalin angesichts der wachsenden Bedrohung der Sowjetunion eine - immer noch zensierte -Version erlaubt hatte);

. zu dem gegen Kriegsende seitens der offiziellen Sowjetunion, konkret in dem Artikel "Genosse Ehrenburg vereinfacht" des Leiters der Abteilung Agitation und Propaganda des ZK der KPdSU vom April 1945, erhobenen Vorwurf, Ilja Ehrenburg rufe undifferenziert zum Hass gegen alle Deutschen auf (es wird eingeschätzt, dass Ehrenburgs konsequent antifaschistische Kriegsartikel in den letzten Wochen des Krieges politischen Absichten der Aussöhnung mit den Alliierten und der Gewinnung von Verbündeten in Deutschland im Wege standen und gleichzeitig seine das Bild von der Roten Armee schädigende Kritik an Übergriffen auf die deutsche Zivilbevölkerung zum Schweigen gebracht werden sollte - Ehrenburg erhielt im Gefolge dieses Artikels Publikationsverbot und durfte erst wieder von den Nürnberger Prozessen umfangreich berichten).

Auch wenn es - es war ja Kommunalwahlkampfzeit - nicht ohne den einen oder anderen polemischen Unterton abging, verlief die Diskussion sachlich, informativ und konstruktiv. Dazu trug auch bei, dass mehrere Vertreter von Parteien und Wählervereinigungen auf dem Podium mit sehr guten Kenntnissen "angetreten" waren. Einige Kriegsartikel von Ehrenburg, speziell für diesen Abend ins Deutsche übersetzt, waren zum Füllen eventueller Pausen im Gesprächsablauf zum Vortrag vorbereitet; gelesen wurde letztlich nur einer: "Töte!" vom 24. Juli 1942 in voller Länge - ein vermeintlich bekannter Text, von dem aber stets nur ein Teil, der Aufruf zum Töten, zitiert und damit verschwiegen wird, wie Ehrenburg diesen Aufruf begründet: nämlich mit Zitaten aus gefundenen Briefen aus Deutschland an Soldaten der faschistischen deutschen Armee, die sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter verhöhnen und ihnen das Menschsein absprechen.

Die abschließende Frage an das Podium griff eine Anregung aus der allgemeinen Diskussion auf: Wie umgehen mit der Situation der Einwohner der Ilja-Ehrenburg-Straße, die seit Jahren unmittelbar mit den Angriffen auf den Straßennamen konfrontiert werden? Wie kann man ihre Wünsche für ihr Lebensumfeld besser berücksichtigen, wie kann man den Dialog über die weitere Pflege des Straßennamens mit ihnen gestalten? Gefordert wurde eine verstärkte polizeiliche Präsenz in der Straße, im Übrigen spiegelten die Statements noch einmal die gesamte Problematik des Umgangs mit Ilja Ehrenburg und Ilja-Ehrenburg-Straße in Rostock. Für die Initiative Ilja Ehrenburg waren das in jedem Fall wichtige Antworten: Wir werden noch während der Laufzeit der Ausstellung das Gespräch mit den Einwohnern der Straße suchen.

Gemäß der Tradition der Politischen Donnerstage war die Veranstaltung von der Volksküche eingeleitet worden: Mit nicht ganz ernst gemeinten Anklängen an das Thema des Abends ging es hier um Pelmeni, Buchweizengrütze (eine der wenigen Speisen, auf die Ehrenburg in einem seiner Texte ausdrücklich Bezug nimmt), Rote Bete mit Sahne und Knoblauch - eine beliebte russische Vorspeise - , Feldsalat und französisches Baguette. Ein Informationsstand bot begleitend Materialien zur bisherigen Arbeit der Initiative an: den Offenen Brief "Ilja-Ehrenburg-Straße muss ihren Namen behalten!" an Bürgerschaft und Stadtverwaltung von 2007, auch weiterhin zur Unterschrift; ein Faltblatt über Ilja Ehrenburg, das übrigens inzwischen auch im Stadtarchiv und in der Bibliothek der Bürgerschaft seinen Platz gefunden hat; Plakate von der Veranstaltungsreihe "Ilja Ehrenburg: Leben und Werk" 2007/2008 in Rostock; Bücher von Ilja Ehrenburg, die Rostocker Einwohner auf einen Aufruf der Initiative im Zusammenhang mit der Eröffnung der Ausstellung hin aus ihrer eigenen Büchersammlung fortlaufend spenden. Bedauerlich war die Abwesenheit jeglicher Medienvertreter. Ganz offensichtlich braucht das Thema auch über diese Veranstaltung hinaus die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit.