Nicht vergessen!
Die "Pommersche Zeitung" schreibt: "Unser Kampf war ehrlich von Anfang an, weil wir unsere Grenzen nicht überschritten mit der Absicht, uns in blindem Unverstand fremde Völker unterzuordnen. Im Gegenteil, als wir gezwungen waren, unsere Grenzen hinter uns zu lassen, gingen wir als Herolde einer neuen Ordnung und einer neuen Gerechtigkeit. Kein einziger Deutscher hat je im Sinn gehabt, die Engländer zu vernichten, die Franzosen zu strafen, die Holländer oder irgendein anderes Volk zu knechten, vom Blut und Schweiß anderer Nationen zu leben. Im Gegenteil, unsere Siege strahlten Beruhigung aus."
Die Armen, da waren sie also gezwungen, in den Kaukasus und nach Ägypten zu ziehen, um Beruhigung auszustrahlen, und jetzt, da man ihnen erlaubt hat, nach Köln und nach Ostpreußen zurückzukehren, sagen sie sanftmütig: "Wen wir beleidigt haben, dem vergessen wir alles."
Mit welchem Ziel haben sie "die Grenzen überschritten"? Auf diese Frage antworten die Karten, die sie in den Jahren 1939-1942 gedruckt haben. Das ist der Atlas des "blinden Unverstandes": Zu "Großdeutschland" zählten Lille und Kiew, Riga und Nancy.
Sie wollten andere Völker nicht knechten und von fremdem Blut, fremdem Schweiß leben? Ist es denn schon lange her, dass Gruppenführer Hasse im "Hamburger Fremdenblatt" erklärt hat: "Das ehemalige Russland werden die Sturmtruppleute und die Kinder der Sturmtruppleute kolonisieren."? Und der "Danziger Vorposten" schätzte: "Jeden deutschen Kolonisten werden acht bis zehn Sippen bedienen." Ja, damals taten sie nicht bescheiden und die deutsche Firma "Bremen" verhieß ihren Aktionären turkestanische Baumwolle. Damals schrien sie: "Für das Volk der Krämer, die Engländer, ist kein Platz auf der Erde" ("Völkischer Beobachter"). Damals drohten sie: "Die Erschießungen der Geiseln werden den Franzosen zeigen, dass wir vor nichts Halt machen" ("Pariser Zeitung"). Als sie die Holländer in die Ukraine schickten, erklärten sie: "Nur in den Geschichtsbüchern wird sich der Begriff von Holland als einem Staat erhalten" ("Der Angriff").
Wo haben sie "Beruhigung ausgestrahlt"? In der "Wüstenzone"? Oder vielleicht beim Anblasen der Öfen von Majdanek und Treblinka?
Sehr früh haben sie begonnen, sich von sich selbst loszusagen. Sie schießen noch und jammern schon. Sie zerstückeln noch Kinderkörper und waschen schon ihre blutbesudelten Hände in Unschuld.
Man sagt, nicht vergessen heißt leben. Wirklich, ein Mensch, der sein Gedächtnis verliert, verliert sein halbes Leben, wird vergänglich. Aber nicht vergessen - das heißt nicht nur leben, das heißt künftige Generationen retten, den Begriff Mensch retten.
Es hat in der Geschichte Phänomene gegeben, vor denen sich Weise den Kopf zerbrochen haben. Das Deutschland Hitlers ist keine Sphinx, es ist eine Typhuslaus; und alle begreifen jetzt, was Faschismus ist, aber nicht alle wollen sich merken, was sie begriffen haben. Vergessen - das heißt verzeihen, aber den Ofensetzern von Majdanek verzeihen - das heißt Kinder aufziehen für andere Öfen, noch viel vollkommenere. Ich bin kein Politiker, der Art meiner Arbeit entsprechend habe ich mit menschlichen Gefühlen zu tun, jeder Schriftsteller ist ja Psychologe. Jeder Schriftsteller ist noch dazu Moralist, selbst wenn er über Moral nicht nachdenkt. Als Schriftsteller möchte ich an die seelischen Ursprünge des Faschismus erinnern.
Lange Jahre haben die Hitleristen die deutschen Halbwüchsigen gedrillt. Was haben sie den minderjährigen kleinen Faschisten eingeimpft? Das Gefühl ihrer Überlegenheit. Jetzt hat die Welt erfahren, was rassischer oder nationaler Hochmut bedeutet. Wenn jedes Volk zu dem Schluss kommt, dass es das erste auf der Welt ist und darum das Recht hat, andere wie Untergebene zu behandeln, werden wir noch im zwanzigsten Jahrhundert neue Majdaneks sehen.
Worauf beruht der Hochmut Deutschlands? Auf der Vergangenheit, sagen die einen. Zweifellos, in der Vergangenheit hatten die Deutschen hervorragende Philosophen, Musiker, Dichter, Wissenschaftler. Kein Antifaschist denkt daran, Goethe oder Beethoven zu entthronen. Aber Kultur ist keine Rente, sie ist ein Schöpfungsprozess. Und im faschistischen Deutschland ist nichts von der großen Vergangenheit übrig geblieben. Wir lachen über den Degenerierten, der Verstand oder Wissen durch den Stammbaum zu ersetzen versucht. Lächerlich und widerwärtig ist ein Volk, das sich beim Verbrennen von Museen und Bibliotheken auf Schiller oder auf Kant beruft.
Die Deutschen sind stolz auf ihre Gegenwart, wenden die anderen ein. Aber worauf sollen sie stolz sein? Auf Görings Raffsucht? Auf Goebbels' Lasterhaftigkeit? Auf die Ungebildetheit und Verdorbenheit der Minister? Auf Himmlers Arbeitseifer? Oder vielleicht sind sie eitel wegen des hohen Standes ihrer Technik, der Reinlichkeit ihrer Städte, des Komforts ihrer Wohnungen? Aber das alles ist doch nicht vom Faschismus geschaffen worden: Hitler hat Deutschland nur ruiniert. Und es ist auch nützlich anzumerken, dass Amerikas Technik höher steht, dass Hollands Städte reinlicher sind, dass die Wohnungen der Schweden komfortabler sind. Noch dazu kann allein die Technik nicht der Stolz einer Nation sein, wenn der eiserne Körper des Staates nicht mit höheren Bestrebungen verbunden ist. Aber im faschistischen Deutschland dient die Zivilisation nur niedrigen Zwecken, und die "Gasbäder" für die massenhafte Ermordung von Kindern sind die natürliche Vollendung der deutschen Technik.
Nein, nicht auf der Vergangenheit und nicht auf der Gegenwart beruht das Gefühl der Überlegenheit, das die Faschisten ihren Kindern eingehämmert haben.
Der Hochmut Deutschlands beruht auf einem Vorurteil, auf dem Glauben an die magischen Eigenschaften des deutschen Blutes, auf der Überzeugung, dass alles Deutsche höher als alles Nichtdeutsche steht.
Vor etwa dreißig Jahren war ich bei einer spaßigen Diskussion anwesend; das war in der Champagne, wo sich damals eine russische Brigade befand. Ein Gascogner hatte in einem Kochgeschirr Buchweizengrütze gesehen und erklärte: "Bei uns füttert man damit nur das Vieh." Worauf der Russe antwortete: "Und ihr esst Frösche, die würde bei uns nicht mal das Vieh essen." Man sagt, dass sich über Geschmack nicht streiten lässt (ich persönlich mag sowohl Buchweizengrütze als auch Frösche); aber die Faschisten haben die Welt mit Blut getränkt zur Feier des deutschen Geschmacks und der deutschen Geschmacklosigkeit. Einem jungen Faschisten impft man ein, dass das weißblonde Käthchen höher steht als die braunhäutige Jeannette, dass Bier edler ist als Cidre oder Kwass, dass Berlin schöner ist als Leningrad und London, dass ein Mensch, der anstatt "guten Tag" "sdrawstwujte" oder "bonjour" sagt, damit seine Nichtigkeit zeigt.
Die Ursprünge der Ströme von Blut liegen in den, wie man meinen sollte, unschuldigen Sümpfen der menschlichen Dummheit. Kinder haben es mitunter an sich, über Fremdes, Ungewohntes zu lachen; dann redet ihnen die Mutter ins Gewissen und das Kind sieht, wenn es größer wird, dass sich die Welt nicht auf sein Haus, seine Straße beschränkt. Jeder Mensch und jedes Volk liebt das Seine, das ihm von frühester Kindheit an nahe ist. Welchen Russen lassen weiße Birken gleichgültig? Aber wir haben nie behauptet, behaupten nicht und werden nie behaupten, dass die Birke "edler und würdiger" als die Zypresse oder die Zeder ist. Natürlich kann die Mutter klüger sein als die Nachbarsfrau, aber man liebt sie nicht dafür, sondern dafür, dass sie die Mutter ist. Wahrer Patriotismus ist bescheiden und hat mit Nationalismus nichts gemein: Patriotismus - das ist Brüderlichkeit, Nationalismus - Gemetzel und Tod.
"Man muss die Slaven an die Wand drücken*" - "man muss die Slaven an die Wand drücken" - mit diesem dummen und niederträchtigen Satz sind die Deutschen erzogen worden. Man hat ihnen nicht gesagt, dass die slavischen Völker der Welt Hus und Kopernikus, Tolstoi und Tschechow, Chopin und Tschaikowski, Mendelejew und Lobatschewski gegeben haben. Man hat ihnen stumpfsinnig immer wieder gesagt: "An die Wand drücken!" Und die vertierten Schüler beschlossen, große, begabte, lebensfähige Völker wirklich an die Wand zu stellen. Warum? Weil Hans einen grünen Hut mit Feder trägt, weil Willi für die Kegelbahn schwärmt, weil Fritz seiner Gattin "Kätzchen*" zuflüstert.
In den Ländern und Gebieten, die sie an sich gerissen haben, haben die Deutschen alle Juden getötet: Alte, Säuglinge. Fragen Sie einen deutschen Gefangenen, aus welchem Grund seine Landsleute sechs Millionen unschuldige Menschen vernichtet haben, er wird antworten: "Sie sind Juden. Sie sind schwarzhaarig (oder rothaarig). Sie haben anderes Blut." Es hat mit platten Witzen, mit Zurufen von Straßenjungen, mit Aufschriften auf Zäunen angefangen und zu Majdanek, zu Babi Jar, zu Treblinka, zu Gräben, randvoll mit Kinderleichen, hat es geführt. Wenn vor Treblinka der Antisemitismus als eine Hässlichkeit des Alltags erscheinen konnte, so ist dieses Wort jetzt mit Blut getränkt; und zu Recht sagt der polnische Dichter Julian Tuwim: "Der Antisemitismus ist die internationale Sprache der Faschisten."
Die ganze Welt sieht jetzt, wohin rassischer und nationaler Hochmut führt. Die Öfen von Majdanek, in denen die Deutschen Menschen von dreißig Nationalitäten verbrannt haben nur dafür, dass sie Russen, Franzosen, Polen oder Juden waren, diese schrecklichen Öfen sind nicht auf einmal emporgewachsen, sie hat eine langwährende Erziehung vorbereitet, die auf Menschenhass gegründet war. Die Menschen der ganzen Welt dürfen nicht vergessen, dass Nationalismus der Weg nach Majdanek ist. Wenn ein Volk seine Freiheit auf der Unterdrückung anderer Völker aufbaut, wenn ein Staat die Rechte seiner Bürger anderer Hautfarbe einschränkt, wenn die Gesellschaft einen Menschen dafür verfolgt, dass er sich durch die Form seiner Nase oder durch seine Aussprache von seinen Nachbarn unterscheidet, dann ist dieses Volk, dieser Staat, diese Gesellschaft in Gefahr. Wir haben der Welt ein großes Beispiel für die Freundschaft von Völkern gegeben. Wir sehen, wie von denselben Idealen das neue Jugoslawien beseelt ist, wo Völker, die sich noch vor kurzem hassten, begonnen haben, sich als Brüder zu fühlen. Wir glauben daran, dass alle Nationen, die großen und die kleinen, Äußerungen rassischer und nationaler Intoleranz zum schwersten Verbrechen erklären werden.
Der Faschismus wurde in den tiefsten Niederungen des menschlichen Bewusstseins geboren. Es ist nicht verwunderlich, dass seine ersten Anhänger Menschen waren, die keine Moral hatten: Mörder, Zuhälter, wütend gewordene Erfolglose, Abenteurer und Banditen. Aber es reicht nicht, zu wissen, woher die Faschisten gekommen sind; man darf nicht vergessen, dass "anständige" (oder als solche geltende) Menschen diesen Verbrechern geholfen haben. Über die letzte Zeit haben wir ein wenig den Begründer des Faschismus vergessen - den ehrsüchtigen und blutrünstigen Duce. Seit Italien zu neuem Leben erwacht ist, ist Mussolini ein durchschnittlicher Kostgänger der Deutschen. Aber es lohnt sich, sich an seine Erfolge zu erinnern: sich zu erinnern, um nicht zu vergessen, und nicht zu vergessen, um zu leben. Lange Jahre wurde Mussolini von einigen Demokraten für einen weisen Staatsmann gehalten. Aber angefangen hat Mussolini mit Pogromen: Seine Schwarzhemden zündeten Volkshäuser an, vernichteten Bücher, flößten Lehrern, Studenten, Arbeitern Rizinusöl ein, ermordeten ehrliche Bürger. Da dachten einige "Demokraten": Lieber italienisches Rizinusöl als russische Bücher, wie sie sich dann in den Tagen von München auch beruhigten: Lieber Hitler als ein Triumph der Freiheit. Die Staats-Unverständigen wollten tollwütige Wölfe als Kettenhunde benutzen. Sie rechneten darauf, dass die tollwütigen Wölfe nur nach Direktiven beißen würden. Europa und die Welt sehen jetzt die Moral dieser amoralischen Politik: die Ruinen Warschaus, das Leid Paris', die Wunden Londons - mit ihnen wurde die Einsicht der Völker bezahlt.
Wir dürfen nicht vergessen: Der Faschismus wurde geboren von der Gier und dem Stumpfsinn der einen und von der Tücke und der Feigheit der anderen. Wenn die Menschheit mit dem blutigen Albtraum dieser Jahre Schluss machen will, dann muss sie Schluss mit dem Faschismus machen. Hier gibt es keine halben Maßnahmen. Wenn der Faschismus irgendwo in Kultur belassen wird, werden in zehn oder in zwanzig Jahren wieder Ströme von Blut fließen. Ein Keil wird mit einem Keil ausgeschlagen, aber den Faschismus kann man nicht mit dem Faschismus ausschlagen. Man kann die Völker nicht von Faschisten einer Couleur befreien und sie in die Hände von Faschisten anderer Couleur geben. Der Faschismus ist ein schreckliches Krebsgeschwür. Man kann es nicht mit Mineralwässern heilen. Man muss es entfernen. Ich glaube nicht an das gute Herz der Leute, die über die Henker und über die Verräter weinen: Diese vermeintlich guten Menschen bereiten den Tod für Millionen Unschuldiger vor. Die Völker Europas haben heldenhaft gegen die Okkupanten gekämpft; und die Völker - das sind keine Mohren, die gehen können, wenn sie ihre Schuldigkeit getan haben. Es gibt ein gutes französisches Sprichwort: "Der Köhler ist bei sich zu Hause der Herr." Das verstehen nicht nur die Franzosen. Die Rote Armee hat gezeigt, was Siegen heißt: Das wissen Polen, Norweger, Serben, Slowaken. Wir setzen nicht an die Stelle von Faschisten Halbfaschisten: Wir befreien ohne Anführungszeichen. Wir wissen, dass die Demokratie eine Tochter des Volkes ist und keine glamouröse Dame, an der man sich nur von fern weiden kann, und auch das nur durch Protektion.
Die Völker, die die Tyrannei des Faschismus kennen gelernt haben, werden uns ohne lange Worte verstehen: Vor der Tür herrscht das Zeitalter der Völker, nicht das Zeitalter der Diplomaten. Uns versteht das tapfere Volk Frankreichs. Uns verstehen alle unsere Verbündeten. Seinerzeit glaubten die Engländer an die Zauberkräfte des Ärmelkanals. Jetzt verstehen sie, dass man sich mit einem Kanal vom Faschismus nicht abgrenzen kann. Von jeher ist Hunden die Einreise nach England verboten: Damit wollen die Engländer ihr Land vor der Tollwut bewahren. Aber die zweibeinigen Tollwütigen, im Unterschied zu den vierbeinigen, besitzen verschiedene "V"; und England von neuem Elend abschirmen kann nur die volle Vernichtung des Faschismus: von Warschau bis La Línea - dem Städtchen, das Gibraltar benachbart ist. Selbst der Ozean ist kein Schutz; Amerika wird von neuen Kriegen nur durch die Freundschaft der Völker und den Tod des Faschismus gerettet werden.
Wenn die "Pommersche Zeitung" wagt, zu behaupten, Deutschland sei als reiner Friedensapostel ins Feld gezogen, heißt das, die Faschisten hoffen jetzt auf eins: auf den Verlust des Gedächtnisses. Nach schweren Verwundungen stellen die Ärzte mitunter einen solchen Verlust fest, er wird in der Medizin Amnesie genannt. Die Wunden der Welt sind groß, aber die Völker leiden nicht an Amnesie. Sie erinnern sich an alles. Sie werden an den Tagen des Gerichts alles wieder wissen. Die schrecklichen Jahre werden sie auch nach dem Sieg nicht vergessen. Wir dürfen nicht vergessen: Das ist unsere Pflicht vor den toten Helden wie vor den Kindern.
Mögen grässliche Gesichte unverrückbar vor unseren Augen stehen: Zu diesem Preis retten wir die Welt. Ich weiß, dass es leichter ist, zu vergessen, aber wir vergessen nicht. Wir schwören: nicht zu vergessen, nicht zu vergessen, nicht zu vergessen!
17. Dezember 1944
* im Original deutsch - Anm. d. Übers.
Quelle: Èrenburg, I.G.: Vojna. 1941-1945. Moskva: Olimp - Astrel' - AST, 2004. S. 676-682
Übersetzung aus dem Russischen: Cornelia Mannewitz